Kunsttherapie und Märchen

with Ein Kommentar
 Illustration von Lisbeth Zwerger aus Däumelieschen
 

Wenn Däumelieschen¹ für eine Klientin eine Geschichte des Zu-sehr-begehrt-werdens ist, davon erzählt, Spielball der Wünsche von anderen zu sein, eine Puppe in ihrem goldenen Käfig – ist sie für mich eine Geschichte des Nicht-gesehen-werdens, letztlich eine Geschichte, die sagt, dass Sehnsucht die stärkste Kraft ist: 

Denn ohne zu wissen, ob es tatsächlich Wesen gibt, die sie sehen wie sie ist, die ihr wohlgesonnen sind, die sie erweitern und nicht verkleinern wollen, ohne zu wissen, dass es so jemanden gibt, hat Däumelieschen doch den Mut zu flüchten aus der arrangierten Ehe mit dem langweiligen reichen Maulwurf und der behaglichen Sicherheit und dem Leben ohne Sonne, das das Zusammensein mit ihm bedeutet hätte als sich ihr die Chance bietet.
Sie weiß nicht, ob es da draußen tatsächlich etwas Besseres für sie gibt – alles was sie hat ist ihre Sehnsucht und wenn es etwas gibt, das vorstellbar ist, etwas, das ersehnbar ist, dann muss es das irgendwo und irgendwann geben? So die Logik der Sehnsucht.
Nur sehnen reicht nicht, sagt die Geschichte des Dornröschens auch: Mut braucht es. Sich selbst treu bleiben. Sind das zeitgemäße Lehren? Sind Märchen pädagogisch? 
Das ist nicht ihr wichtigster Aspekt würde ich sagen – damit stutzt man sie zurecht. Ich finde die Erklärung von Udo Baer² schön, wo er sagt, letztlich bleiben diejenigen Geschichten  / Märchen über, wurden mündlich immer weitergegeben, die Resonanz auslösen in den Menschen. 

“Bei Filmen gibt es Eintagsfliegen, die gedreht, gesehen und vergessen werden, und es gibt Filme, die zu Klassikern werden, so wie Märchen Klassiker unter den Geschichten sind, die in Erinnerung bleiben, weil sie, wie gesagt, vielfache Resonanz hervorrufen. Wenn es stimmt, was ich bisher gesagt habe, nämlich  dass den Märchen kein obskurer Volksgeist, keine ominäsen Archetypen innewohnen, sondern dass sie ihre Kraft aus ihrer Wirkung und ihre Bedeutung aus den Echos, die sie hervorrufen, gewinnen, dann kann es keine Deutungen von Märchen geben. ”

Welcher Aspekt des Märchens es ist, den man hört, das kann von Mensch zu Mensch, ja von Situation zu Situation verschieden sein. Psychologische Deutungen von Märchen greifen daher seiner Meinung nach immer zu kurz – es gibt nicht nur eine gültige Deutung. 

Wiewohl ich niemanden davon abraten würde, Drewermanns³ tiefenpsychologische Märcheninterpretationen zu lesen. Einfach, weil es interessant und bereichernd ist in seine Art des Denkens und Deutens einzutauchen. 
Nur den kleinen Prinzen, den soll er mir lassen, wie er ist.
 

¹ H. C. Andersen, Lisbeth Zwerger: Däumelieschen.
Neugebuer Press, Salzburg, 1980 
² Udo Baer: Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder. 
Kunst- und gestaltungstherapeutische Methoden und Modelle.
Affenkönig Verlag, Neukirchen-Vluyn, 2007 
³ Eugen Drewermann: Lieb Schwesterlein, lass mich herein. 
Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet.
dtv dialog und praxis 1992
Eugen Drewermann: Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter.
Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet.
dtv dialog und praxis 1992
Eugen Drewermann: Das Eigentliche ist unsichtbar.
Der kleine Prinz tiefenpsychologisch gedeutet.
Herder Verla,g, Freiburg im Breisgau 1984                                                                   

Eine Antwort

  1. […] der Geschichte des Däumelieschens wärmt das Däumelieschen den totgeglaubten Vogel, bis langsam wieder Leben in ihn kehrt. Bis er […]

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